Kritische Analyse vbw-Studie "Folgen einer Lieferunterbrechung von russischem Gas für die deutsche Industrie" (Juni 2022)

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Wagenknecht zitiert die Zahlen aus vbw-Studie, um ihre Forderung nach Beendigung von Russland-Sanktionen zu rechtfertigen.[1]

Executive summary: Durch eine Verschiebung von Zusatzimporten, Einspeicherung und Gasnachfrage zwischen den Monaten wird die Deckungslücke im 2. Halbjahr zu hoch berechnet, was im Vergleich zu anderen Studien höhere Wirtschaftseffekte erklärt. Diese Monatsverteilung steht im Widerspruch zu verfügbaren historischen sowie aktuellen (2022) Daten, sodass man mit großer Wahrscheinlichkeit über eine bewusste Manipulation sprechen kann. Die Populisten greifen diese manipulierten Ergebnisse gerne auf, um ihr Wir-schaden-uns-mehr-als-Putin Narrativ zu untermauern[1][2].

Hintergrund

Die Studie wurde von Prognos AG im Auftrag von vbw - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. erstellt und am 28. Juni 2022 veröffentlicht [3][4].

Mit den Haupterkenntnissen (-12,7 % Wirtschaftsleistung und 5,6 Mio. „betroffene“ Arbeitsplätze) wird argumentiert, dass der russische Gaslieferstopp „katastrophale“ Folgen für die deutsche Wirtschaft hätte. Diese Zahlen wurden jedoch auf der Grundlage unrealistischer und/oder veralteter Annahmen ermittelt, die wir im Folgenden zu erklären versuchen. Außerdem sind beide Zahlen anfällig für Fehlinterpretationen, was bereits in der IWH-Studie der Fall war.

Diese Ergebnisse sind insofern interessant, dass sie im Widerspruch zu anderen Analysen stehen. So kommt zum Beispiel die jüngste Gemeinschaftsdiagnose von fünf führenden Wirtschaftsinstituten, die ebenfalls Lieferstopp ab Juli modelliert, zu dem Schluss, dass es im Jahr 2022 keine Gasknappheit geben wird. Dies gilt sogar für das Worst-Case-Szenario mit den pessimistischsten Annahmen[5]. Die Autoren erklären diese Diskrepanz damit, dass "in der vorliegenden Studie die erdgasintensiven Produktionsprozesse separat und sehr detailliert betrachtet werden" (S. 31). Wir zeigen jedoch, dass größere Gaslücke und dementsprechend höhere Wirstchaftseffekte vor allem durch eine massive und unplausible Unterschätzung von Ersatzimporten im 2. Halbjahr 2022 zustande kommen,

Tabelle 5 im Original [3]
Tabelle 5 mit Korrekturen der Importe, Excel-Version in https://files.embargo.energy/vbw-analysis/vbw-tabelle5_corrected_alex.xlsx

Unsere Analyse der VBW-Studie

Unser Hauptkritikpunkt ist, dass die Gaslücke von 154 TWh (Gesamtjahr 2022) bzw. 108 TWh (2. Halbjahr) als deutlich zu groß berechnet wird. Dies passiert durch falsche bzw. unplausible Annahmen, wie man in der Tabelle 5 sieht (Seite 44 der Studie, s. Abbildung rechts). Diese Tabelle 5 wird für die Kernergebnisse der Studie verwendet (z.B. Abbildung auf Seite 24). Im Einzelnen:

  • Angebot (Jul-Dez: 70 bis 170 TWh "verloren")
    • Die geschätzten Speicherfüllmengen im Juli-Okt in Tabelle 5 sind zu hoch (90 TWh), was der Aussage auf S. 7 ausdrücklich widerspricht: "Zum Erreichen der deutschlandweiten Füllstandsvorgabe von 90 Prozent bis zum 01. November 2022 werden noch rund 78 TWh (Hu) (Bayern: 12 TWh) benötigt (ohne Haidach)." Außerdem erreichte der Speicherfüllstand zum 30. Juni 61% (148 TWh), so dass der tatsächliche Bedarf nach dem 1. Juli noch geringer sein wird (~70 TWh).
    • Es gibt eine Unterschätzung der Importe aus den Niederlanden und Norwegen im 2. Halbjahr, die im Mai/Juni im Gegensatz zum April plötzlich abnehmen, was im Widerspruch zu den Prämissen der Studie (S.17, Tabelle 1, Abbildung 1) sowie tatsächlichen Importen steht. Wenn man die Berechnungsmethode auf S. 17 anwendet - also die zusätzlichen Gasmengen von knapp 140 TWh gleichmäßig auf die Monate verteilt und auf die entsprechend gelieferten Vorjahresmengen addiert - ergibt sich im 2. Halbjahr knapp 50 TWh mehr Gasangebot als es in der Tabelle 5 steht.
    • Allerdings sind die nicht-russischen Importe allein in Q1 2022 um 100 TWh gegenüber Q1 2021 gestiegen (Abb. 1), und bleiben auch weiterhin auf dem hohen Niveau. Das legt die Vermutung nahe, dass die Zusatzlieferung mit 140 TWh pro Jahr zu pessimistisch eingeschätzt wurden. So hat Norwegen in Q1 +80% statt +10% mehr geliefert (Abb. 1). Wenn wir annehmen, dass die Lieferungen auch im 2. Halbjahr ähnlich hoch bleiben wie bisher, dann ergibt sich ein Angebot-Plus von 150 TWh gegenüber Tabelle 5.
  • Nachfrage (Jul-Dez: mind. 6 TWh "zugeschrieben")
    • Der Gesamtverbrauch (vor Einsparungen) für Jahr 2022 ist mit 938 TWh (bzw. 935 TWh in Tabelle 5) beziffert. Diese Zahl wurde angeblich aus dem Jahr 2021 übernommen (S.18) und sollte von AG Energiebilanzen stammen, ist aber in den angegebenen Quellen nicht zu finden. Stattdessen wird dort 1,012 TWh angegeben[6]. Diese letztere Zahl entspricht auch in etwa den Angaben von BDEW und BNetzA (1,016 TWh).
    • Interessant ist hier eine sehr untypische Verteilung auf die Monate: obwohl im Gesamtjahr die Studie mit gut 80 TWh weniger Verbrauch als BDEW/BNetzA rechnet, sind es im 2. Halbjahr 6 TWh mehr. Besonders in Mai ist der Verbrauch mit 43 TWh unrealistisch niedrig (auf dem Niveau der Sommermonate, vgl. BNetzA: 68.2 TWh, BDEW: >60 TWh). Dagegen ist der Verbrauch in Jul-Dez fast immer höher als von BDEW/BNetzA angegeben (Ausnahme: Okt).
    • Die bereits realisierten Gaseinsparungen im Jan-Jun 2022 gegenüber 2021 liegen bei 89 TWh (-9% bis -27% monatlich, Tendenz steigend). Dies wurde erreicht, obwohl die wichtigsten Sparmaßnamen noch nicht umgesetzt wurden. So wurde in Jan/Feb noch kaum bei der Heizung gespart, und im 1. Halbjahr wurden mind. 60 TWh Erdgas in Kraftwerken verstromt. Deswegen erscheinen uns die in der Studie angelegten Einsparungen im 2. Halbjahr von 112 TWh als zu pessimistisch.
    • Die in Tabelle 2 berechneten Einsparungen ab Juli sind in der Tabelle 5 offenbar *nicht* berücksichtigt, sondern lediglich in Abb. 7 grafisch ablesbar. Das erschwert die Analyse bzw. Korrektur der Ergebnisse unnötig.
  • Andere Unstimmigkeiten
    • In Tabelle 2 (Seite 20) wird die Auswirkung der Temperatursenkung auf die Energieeinsparungen der Haushalte, die dem UBA zugerechnet werden, ohne weitere Erläuterung sehr unambitioniert beziffert.

Unsere Korrektur

Wir korrigieren die o.g. Unstimmigkeiten in der Tabelle 5. Dabei betrachten wir 2 Szenarien:

1. Pessimistisch. Hier wurden die aktuellen Entwicklungen im Jahr 2022 weitgehend ignoriert, und nur mit den historischen Daten von 2021 und in der Studie getroffenen Annahmen gerechnet. In diesem Szenario entsteht im zweiten Halbjahr 2022 eine Gaslücke von nur 13 TWh, oder eine Größenordnung kleiner als von Prognos berechnet (110 TWh).

2. Realistisch. Hier wird angenommen, dass sich die im 1. Halbjahr 2022 beobachteten Trends bzgl. Importen und Einsparungen auch im 2. Halbjahr fortsetzen. In diesem Fall gäbe es im 2. Halbjahr 2022 sogar einen Angebotsüberschuss von knapp 80 TWh.

Eine in Hinblick auf die Importe und Einspeicherung korrigierte Tabelle ist unter https://files.embargo.energy/vbw-analysis/vbw-tabelle5_corrected_alex.xlsx

Medienberichterstattung über diese Studie

  • FAZ, Deutschlands Wettbewerbsstärke: Forscher warnen vor Gaskrise - Speicher jetzt zu 60 Prozent gefüllt, retrieved 28 June 2022
  • Spiegel, Verband warnt vor Wirtschaftseinbruch um 12,7 Prozent, retrieved 28 June 2022
  • manager magazine, Stopp russischer Gaslieferungen könnte Deutschland 13 Prozent vom BIP kosten, retrieved 28 June 2022
  • BR, Studie: Russischer Gasstopp würde Wirtschaft hart treffen, retrieved 28 June 2022

Aktionen

Demo 06 Juli https://www.facebook.com/events/568879691549999/?active_tab=discussion

References